Donnerstag, 24. Dezember 2015

Sollzustand


Schönsein ist kein Zustand, sondern ein Tun, ein Wirken
Robert Hamerling

Zwei Wochen nachdem ich aus der klinischen Behandlung entlassen wurde bemerke ich, wie ich wieder anfange gedanklich und damit auch körperlich zu versumpfen. Als Kontrollpunkte dienen mir hier das letzte Jahr, meine Selbsthilfegruppe, die wöchentlichen Besuche bei meinen Eltern und dieses Tagebuch.
Sicher hat es durchaus etwas mit Eitelkeit zu tun, dass ich diese Einträge öffentlich mach, aber gleichzeitig ist es auch eine Form der Selbstüberprüfung
Während andere die Tage zählen, die sie nicht getrunken haben, muss ich darauf achten, dass ich in Bewegung bleibe, damit ich nicht einroste und komplett versumpfe. Wenn man die Anzeichen kennt, dann kann man ihnen auch entgegen wirken. Depression wirkt langsam und nicht nur theoretisch hatte ich die Anzeichen eines Rückfalls.
Wie ich schon ganz zu Anfang erwähnt habe, bezeichne ich meine Macke als Motorschaden im Kopf. Man muss sich das so vorstellen, dass mein Hirn eine Starthilfe braucht um zu funktionieren. Diese Starthilfe sind klare und einfache Vorgaben.
Ich fange langsam an. Den einen Tag gehe ich mir neue Hosen kaufen. Die Anschaffung war eigentlich erst für den folgenden Monat geplant, da sich meine sonstige Kleidung langsam auflöst, aber es gibt gerade Sonderangebote, das Konto gibt es her und ich brauche etwas, das mir signalisiert, dass ich mich um mich selber kümmere.
Den nächsten Tag thematisiere ich meinen Zustand in der Selbsthilfegruppe und setze gleichzeitig mein Vorhaben um, mindestens eine Stunde etwas in der Wohnung aufzuräumen.
Den Tag darauf nehme ich mir wieder die Stunde Hausarbeit vor und nehme mir als erstes das Bad vor, es ist zwar für meine Begriffe sauber, aber was soll's. Nebenher läuft die Waschmaschine. Als ich mit dem Bad fertig bin gehe ich zur Küche über. Zwischendurch mache ich immer wieder Pausen und schreibe an Texten. Nebenher läuft das Radio. Zum Abschluss beziehe ich das Bett neu.
Das Wohnzimmer nehme ich mir für den nächsten Tag vor und setze mir gleichzeitig die Frist von zwei Tagen um es zu erledigen. Nebenher hole ich meinen Stuhl aus dem Hinterhof, der die ganze Zeit im Regen stand. Sitz und Lehne sind schon aufgequollen, die besten Anzeichen um ihn neu zu gestalten.
Ein bisschen hat mein Verhalten etwas von Pipi Langstrumpf, die mit sich selber schimpft und wenn sie nicht auf sich selber hört, dann wird sie richtig ernst mit sich selbst.
Bevor ich zu der geplanten Abendgestaltung übergehe mache ich noch die Hälfte meiner geplanten täglichen Sporteinheit, die ich in der letzten Woche habe schleifen lassen.
Die Abendgestaltung besteht aus einer Inszenierung des Schlossplatztheaters im Windkanal in Adlershof. Vor dem Losgehen bin ich beim schreiben so gefesselt, dass es mir schwerfällt mich davon zu lösen, also zwinge ich mich dazu loszugehen.
Auf dem Weg lasse ich mir durch den Kopf gehen was ich alles am Tag geschafft habe und bin glücklich und stolz darauf, dass ich ein potentielles Tief erkannt habe und gegengesteuert habe.
Ich bin stolz auf mich.
Bevor es in den Windkanal geht erinnere ich mich an eine ähnliche Situation, bei der ich niedergeschlagen vor der eigentlichen Veranstaltung nach Hause gegangen bin und kann mein Verhalten von damals nicht mehr nachvollziehen.
Im Windkanal erwartet mich abgedrehte Science – Fiction mit zwei ideellen Gegenpolen und ambivalenter Moral.
Also genau das richtige für mich.
Die Figuren sind in einem Raumschiff gefangen, ohne eigentlich zu wissen warum und ob man dem allgegenwärtigen Computer eigentlich trauen kann. Bei den kunstvollen Lichtinstallationen kommt mir die Idee wohin die Reise eines gewissen Robert Lampe gehen könnte.
Der letzte Tag ist der Sollzustand und ein neuer Bezugspunkt.

Diesen gilt es auszubauen, damit ich kontinuierlich auf mich und auf das heute schauen kann und dabei die gewünschte Normalität sehe.

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